Wenn sich ein Kind in der Welt verirrt...
Zukunft mit Kindern - Beziehung statt Erziehung
2005, Köln, jun. 24-26.
Vortrag von Georg Kühlewind
Köln, den 24-26. Juni 2005
Wenn sich ein Kind in der Welt verirrt...
Zukunft mit Kindern – Beziehung statt Erziehung
Sehr verehrte Anwesende!
Vielleicht wissen Sie, dass ich Naturwissenschaftler war. Ich habe immer große Entdeckungen gemacht, auch Patente. Und das hat sich auf ganz anderem Gebiet fortgesetzt. Ich möchte Ihnen hier über zwei Entdeckungen Bericht erstatten.
Aber vorangehend möchte ich an das anknüpfen, was Dr. Volbehr hier vorgetragen hat, dass nämlich heutzutage die natürliche Abgrenzung zwischen den Menschen so nicht mehr gegeben ist. Das kann ich nur bestätigen. Diejenigen, die das von mir gehört haben, müssen entschuldigen, dass ich es wiederhole. Vor 50 Jahren – ich bin so alt, dass ich mich leicht zurückerinnern kann – vor 50 Jahren war ein Beruf nicht auf dieser Erde vorhanden, der heute zu einer florierenden Industrie geworden ist. Wissen sie, welcher Beruf das ist? Konflikt-Manager. Es gab keine Konflikt-Manager auf Erden. Und heute ist schon die Ausbildung zum Konflikt-Manager eine große Industrie geworden. Warum? Eindeutig, weil wir viel mehr Konflikte haben. Warum haben wir viel mehr Konflikte? Das hat Dr. Volbehr schon dargelegt, weil diese natürliche Abgrenzung nicht mehr so stark ausgeprägt ist. Und das ist der Fall nicht nur bei den Kindern – ganz besonders bei dieser neuen Kindergeneration – sondern vor allem auch bei den Erwachsenen. Die Erwachsenen haben die Konflikte, nicht die Kinder – größtenteils. Sodass wir hier vor einem Phänomen stehen, das eigentlich die ganze – ich könnte sagen – zivilisierte Menschheit betrifft. Aber wo überhaupt ist jetzt keine zivilisierte Menschheit gegeben?
Das Phänomen, dass schwierige Kinder, die es ja nicht gibt nach Henning Köhler, immer mehr werden, das ist ein Welt-Phänomen, das ist in allen Kontinenten so und unabhängig von der Familie, vom Wohlstand, von dem Beruf, ob das eine Waldorffamilie ist oder nicht, das ist einfach da. Der gemeinsame Nenner – das kann ich Ihnen jetzt nur kurz andeuten – besteht darin, dass bei diesen Kindern das Mich-Empfinden, oder wissenschaftlich ausgedrückt, die Autoperzeption, also die Körperempfindung – das nennt man so, oder Propriozeption – viel weniger entwickelt ist als bei den sogenannten normalen Menschen, wobei ich mit normal einfach meine, was wir gewohnt sind, eine andere Bedeutung hat dieses Wort ohnehin nicht – „normal“. Dass die Körperempfindung schwach ausgeprägt ist, dass also das Kind nicht so in seiner Leiblichkeit steckt, sagen wir, oder seine Leiblichkeit nicht so deutlich fühlt, sieht man einerseits daran, dass an dem einem Ende der Kinderpalette – bei den autistischen Kindern, die, bekannt und oft beschrieben, eben hinsichtlich der unteren Sinne, also der Körpersinne, schwach entwickelt sind, sie andererseits aber, mit den mittleren Sinnen, also Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, mit diesen Sinnen ungeheuer anders, eine andere Welt, erleben, als wir zu erleben gewohnt sind. Auch ihr Denken ist anders – oft beschrieben. Es ist kein lineares Denken, von Begriff zu Begriff, sondern es ist ein bildhaftes Denken. Über bildhaftes Denken haben wir ja schon von Prof. Kravitz einiges gehört. Es ist das geniale Denken. Ich kann Ihnen bestätigen, dass in der Geschichte der Naturwissenschaft die ganz großen Ideen immer in Bild-Form gekommen sind, und dann übersetzt wurden in Mathematik oder in die Sprache der Naturwissenschaft. Und diese Kinder denken in Bildern und haben mit der Abstraktion Probleme. Und natürlich ist das die eine Seite, die andere Seite ist, dass sie offener sind. Wenn ich auf das Seminargespräch hier in der letzten Stunde zurückgreifen darf: sie sind offener, das heißt, sie sind näher der Gnade. Diese Decke da [deutet auf seine Schädeldecke] ist nicht so dicht wie bei uns. Bitte, es gibt Ausnahmen, einige sitzen hier. Ich kenne solche Ausnahmen, bei denen diese Decke auch sehr durchlässig ist. Das ist einfach Genialität.
Es ergibt sich die Frage – ich möchte das noch von einer anderen Seite beleuchten – wie stellt sich die innere Struktur dieser Kinder, der neuartigen Kinder und aller Kinder im Kleinkindalter dar? Und was ist es, das sie brauchen? Das kann man unterschiedlich beschreiben. Einiges hat Henning Köhler hier schon erwähnt, z.B. dass sehr vieles in einer Weise geschieht, die man naturwissenschaftlich kaum erfassen kann, dass z.B. unter den Kindern, aber nicht nur unter den Kindern, sondern auch unter erwachsenen Autisten, die stumme Kommunikation geschieht, ganz dramatisch geschieht. Darf ich Ihnen meine letzten Abenteuer diesbezüglich berichten?
Das war im Januar in der Schweiz. In Rüttihubelbad habe ich ein kurzes Seminar für Heilpädagogen gehalten. Und eine Heilpädagogin hat mich gefragt, ob sie ihre Betreute, eine Autistin, so zwischen 50 und 60 Jahre alt, mitbringen kann. Ich sagte ja, wenn sie nicht stört, warum nicht. Sie kam. Und weil sie anwesend war, habe ich zweimal etwas nicht gesagt, mit Rücksicht auf sie. Beide Male hat sie die Hand ihrer Betreuerin ergriffen, und mit gestütztem Schreiben haargenau aufs Papier gebracht, was ich nicht gesagt habe. Also war meine Rücksicht völlig überflüssig, denken Sie sich das! Na, ich will jetzt nicht meine anderen Abenteuer mit Autisten erzählen. Aber das ist nicht nur bei Autisten so, sondern bei jedem Kleinkind.
Wenn man der Frage nachgeht: wie geschieht der Spracherwerb? Ja, die Außenseite wird nachgeahmt – das ist einfach. Wenn Sie aber die Frage stellen, woher weiß das Kind, was ein Wort bedeutet? Wir erklären ja nicht, das meiste könnte man sowieso nicht erklären. Für das Kind wäre z.B. schon das Wort „erklären“ selber ein Riesenproblem … wenn sie das mal nachschlagen. Ich weiß nicht, was „erklären“ ist, könnten Sie es mir bitte sagen? Ja, und denken sie nicht an das Zeigen – es gibt sehr viele Worte, die kann man nicht zeigen. Alle die Verbindungsworte kann man nicht zeigen. So zeigen Sie mir ein „Vielleicht“, oder ein „Oder“. „Oder“ ist in der Schweiz ganz besonders wichtig. Zeigen Sie mir ein „Oder“! Glauben Sie nicht, dass man mit dem Zeigen, wo man zeigen kann, besser zurechtkommt. [wendet sich an einen Teilnehmer und deutet auf die Tafel] Ich zeige, Sie sind jetzt mein Kind: Weißt du, das ist eine Tafel. Weißt du, das ist grün. Weißt du, das ist glatt. Weißt du, das ist viereckig. Weißt du, das ist hart. Woher weiß das arme Kind, worauf ich zeige? Ich zeige immer nur auf die Tafel, nenne verschiedene Begriffe, und das Kind muss jetzt erraten, was ich meine. Wie errät es das Kind? Französische Kinderpsychologen sind Mitte des 20. Jahrhunderts darauf gekommen, das Kind lebt in gemeinsamem Bewusstsein mit der sprechenden Umgebung. Haben Sie das gehört? Das ist offizieller Mainstream in der Kinderpsychologie. Ja, wie geht denn das, in gemeinsamem Bewusstsein zu leben mit der Umgebung? Das ist ungefähr so wie die stumme Kommunikation. Die deutsch sprechenden Autisten haben ein Wort kreiert: leise Kommunikation, aber sie ist nicht leise, sie ist stumm. Und ebenso gibt es viele andere Symptome, Fähigkeiten, die sie beherrschen und wir nicht.
Zum Thema Konflikt-Management, das ja immer mehr zunimmt, weil die Konflikte zunehmen, dazu gehört noch etwas anderes: die Allergie. Dadurch, dass das Kind dieses Mich-Empfinden – wir nennen es mit Henning Köhler den „Bademantel“, der das Kind von der Welt trennt, dadurch dass das Kind diesen Mantel nicht hat, oder nur einen sehr dünnen Mantel hat, entstehen alle Allergien. Bitte, als ich Gymnasiast war – im Gymnasium waren 800 Jungen –, war ich der Einzige, der Heuschnupfen hatte, und niemand glaubte es mir, dass das etwas ist. Sie dachten, dass ich das erfinde, oder es vorspiele. Wenn Sie jetzt – ich weiß nicht, ob es hier so ist, aber in Amerika– wenn sie dort einen Kindergarten besuchen, da hängt auf der Tür eine lange Liste, welches Kind welche Allergien hat. Und nicht eine, sondern mehrere, jedes Kind mehrere. Dazu kommen noch die Haustiere, die die Allergien des Halters auch noch bekommen. Das kann ich jetzt nicht erklären, es ist zu esoterisch. Aber jedenfalls ist es so. Und das hängt auch mit der dünnen Haut zusammen, wenn ich es so ausdrücken darf. Also, es ist ein allgemeines Phänomen, dass wir viel weniger voneinander getrennt sind, uns viel weniger fühlen in unserer Leiblichkeit, dass also die Autoperzeption schwach ist. Und das ist eigentlich das, was verursacht, dass wir künstlich, das heißt von uns aus, Abgrenzungen herbeiführen müssen. Sie waren zuvor, noch vor 50 Jahren, deutlicher gegeben, diese Abgrenzungen, jetzt müssen wir dafür sorgen.
Eine Entdeckung kam dadurch zustande, dass ich mich mit dem Kurzzeitgedächtnis befasst habe, bzw. damit, dass es im Alter oft schwindet. Und da habe ich mehrere Forschungen durchgeführt. Teilweise habe ich mich darüber mit Prof. Hüther in Göttingen ausgetauscht. Sofort fiel mir auf, dass das damit zusammenhängen kann, dass die alten Menschen sehr oft die Welt nicht mehr mit dem Fühlen erleben, und im Fühlen sitzt alle Erinnerung. Das hat Prof. Hüter bestätigt, er kannte eine Studie, eine japanische Studie. In einem Altersheim hatten alle Bewohner ihr Kurzzeitgedächtnis verloren, es geschah ein Erdbeben, alle mussten aus dem Gebäude heraus, es war dramatisch. An dieses Erdbeben erinnern sie sich noch nach zwei Jahren haargenau, mit allen Einzelheiten, weil da das Fühlen, das Gemüt absolut beteiligt war.
Nun hat mich das noch immer nicht so ganz zufriedengestellt, diese ganze Sache, aber da ist mir etwas eingefallen: Eine viel frühere Studie, noch aus der Zeit, als ich mich sehr eingehend mit Musik und Musikologie befasst habe. Da hatte ich schon das Problem: wie hört man eine Melodie. Denn die Melodie hört man auf eine besondere Weise, nämlich nicht so, dass man einen Ton hört und dann einen anderen Ton und dann den dritten Ton usw., auch nicht so, dass man sich an den ersten, zweiten, dritten Ton erinnert, aber auch nicht so, dass man ihn vergisst. Also man muss die Töne, die schon erklungen sind, behalten ohne sich an sie zu erinnern. Ich kann mich natürlich erinnern, wie eine Melodie angefangen hat, aber wenn ich das tue, dann verliere ich eben die Melodie im Hören. Es ist fantastisch, nicht wahr? Man schwimmt mit der Melodie, bleibt nicht bei jedem Ton stehen. Wie würden Sie eine Melodie mit einer Bewegung charakterisieren? Also nicht als Zickzack-Bewegung von Ton zu Ton, sondern als Wellen-Bewegung, obwohl sich nichts bewegt. Ein Ton erklingt und bleibt, wo er erklingt, dann kommt der zweite Ton, der bleibt auch, wo er erklingt, der dritte Ton ebenso. Trotzdem hören wir eine glatte Linie in geschwungener Bewegung, durch die Melodie. Wie machen wir das? Das ist nicht erinnern, es ist auch nicht verlieren, sondern wir schwimmen zusammen mit der Melodie. Es ist ein Wunder, denn es ist nicht die alltägliche Wirkungsweise unseres Bewusstseins.
Aber jetzt kommt der zweite Schritt. Ich frage Sie: wie verstehen wir einen Satz, z.B. das, was ich Ihnen jetzt berichte? Und wenn Sie jetzt aufpassen, wenn Sie es überhaupt verstehen – das hoffe ich: das ist immer der Optimismus des Redners – mit diesem Optimismus kann man sagen, auf ähnliche Weise, wie eine Melodie. Sie dürfen sich nämlich nicht zurückerinnern, welches das erste Wort im Satz war, Sie dürfen es auch nicht vergessen, in beiden Fällen kommt es nicht zum Verstehen, sondern wir schwimmen durch den Satz, auch wenn wir ihn lesen. Beim Lesen gibt es noch Komplikationen, diese zeigen sich z.B. bei der Legasthenie. Das Kind, das nicht durch den Satz, durch den gelesenen Satz schwimmt, sondern bei den einzelnen Worten stehen bleibt, kann die Worte wiederholen, ohne zu wissen, was es gelesen hat. Was hast du gelesen? Keine blasse Ahnung. Es hat fließend gelesen.
Übrigens muss das dem Ludwig Wittgenstein auch aufgefallen sein, denn er stellt einmal die Frage: Wann verstehen wir einen Satz, am Anfang, in der Mitte, oder am Ende? Nicht an einem Punkt, wir müssen durch den Satz schwimmen, dann verstehen wir ihn. Und wenn wir das nicht können, bleiben nur Wörter, die wir vielleicht verstehen, nicht den Satz. Es ist also eine innere Bewegung, die sich zeigt im Hören von Melodien, im Verstehen eines gesprochenen, oder auch geschriebenen Satzes. Ich wusste schon lange, dass es so ist. Aber jetzt ist mir noch folgendes aufgefallen: dass nämlich bei den Erwachsenen diese Bewegung überdeckt ist. Deshalb muss man es ausgraben, sozusagen. Die Musikologen haben es ausgraben müssen, dass im Hören von Melodie dieses Mitbewegen und dieses Mitschwimmen des Bewusstseins geschieht. Dann bin ich darauf gekommen, dass das nicht nur bei der Melodie oder beim Verstehen eines Satzes geschieht, sondern es geschieht immer, aber bei den Erwachsenen ist es überdeckt, nämlich unsere Orientierung in der Welt. Dass wir wissen, wo wir sind, ohne uns zu erinnern, wie wir hergekommen sind. Erinnern Sie sich, wie Sie hergekommen sind? Sie können sich erinnern, aber Sie müssen es nicht, Sie wissen es auch so. Verstehen Sie? Sie wissen, was ist jetzt meine Situation, hier, oder zuhause. Wenn Sie ins Theater gehen, wenn Sie ins Kino gehen, dann brauchen Sie nicht nachzudenken: wieso bin ich hier, sondern unterschwellig, aber lieber möchte ich sagen „überschwellig“, über dem Alltagsbewusstsein ist diese Bewegung da, den ganzen Tag, immer wenn Sie wach sind. Wir haben über dem Alltagsbewusstsein dieses Mitschwimmen im Geschehen des Tages. Daher haben wir unsere Orientierung, warum wir hier sind, was wir tun. Wir müssen uns nicht erst erinnern: ich bin von der Mainzer Straße hereingekommen, zwei Stockwerke heraufgestiegen, und jetzt sitze ich hier. Das brauchen wir nicht, überhaupt nicht. Wir können uns erinnern, aber wir haben nicht viel davon. Wir wissen sowieso, was jetzt die Situation ist. Der Kühlewind ist da, und spricht über dieses Thema. Wie ich dazu kam, das ist selbstverständlich. Dieses überschwellige ist größtenteils ein fühlendes Mitschwimmen, mit dem, was mit uns geschieht, auch jetzt. Ich hoffe, dass Sie diese Sätze verstehen.
Aber beim Kleinkind ist es noch anders. Und das ist jetzt eine Entdeckung. Beim Kleinkind ist dieses Mitschwingen – lieber sage ich Mitschwimmen – mit der Zeit, mit dem Geschehen, mit allem, was um das Kind herum geschieht, plus dem, was wir nicht bewusst wahrnehmen, aber ich würde auch wieder sagen „überbewusst“ wahrnehmen – darüber hat Dr. Volbehr heute Morgen gesprochen – die Nachahmungsgebärden im Menschen, sind beim Kleinkind zunächst die einzige Art, das Weltgeschehen zu verfolgen, zu verfolgen, was mit dem Kind geschieht. Erst später, ungefähr in der Zeit, wenn sich normalerweise dieser Bademantel um das Kind legt, wenn das Kind in der ersten Person über die eigene Körperlichkeit zu sprechen beginnt, wenn also die Autoperzeption erscheint, ungefähr in dieser Zeit beginnt das Kind das Geschehen, was mit ihm geschieht, was in der Welt geschieht, was um das Kind herum geschieht, begrifflich wahrzunehmen. Deshalb wird diese bis dahin fast einzige Auffassungsmöglichkeit der Welt überschattet durch die begriffliche Erfassung der Welt. Können Sie das mitverfolgen? Dazu müssen wir wieder in Betracht nehmen, dass das Kleinkind fühlt, auch wenn es sieht, auch dann, wenn es hört, auch dann, wenn es riecht oder schmeckt. Je weniger das Mich-Empfinden entwickelt ist, desto mehr fühlend sieht, hört, schmeckt und riecht das Kind. Extreme Fälle sind wieder die Autisten. Ich kenne einen Autisten in Budapest, der hört ein Flugzeug ungefähr 10 Minuten früher als ich, obwohl ich sehr gut höre. Aber er hört das nicht, er fühlt das. Ein anderer, der kommt in ein Zimmer, schnuppert und sagt, Frau so und so war hier. Ja, zwei Wochen früher. Denken Sie das! Nimmt ein Glas aus dem Regal, es ist, ich weiß nicht, wieviel Mal, in der Maschine gespült worden, riecht an dem Glas und sagt, Onkel Oskar hat das benutzt. Denken Sie das! Glauben Sie nicht, dass das wirklich Riechen ist, sondern er fühlt etwas. Ich glaube auch nicht, dass die Spürhunde wirklich riechen. Das ist mir als Naturwissenschaftler zu bizarr. Nämlich, was macht man? Ich habe eine Mütze, man zeigt sie dem Hund, er riecht an der Mütze, und jetzt soll er die Spuren meiner Stiefel im Asphalt riechen. Sagen Sie nicht, dass meine Mütze so riecht, wie meine …, das können Sie mir nicht einreden. Diese Hunde riechen die Mütze und dann fühlen sie etwas, das können sie durch die Stiefel noch fühlen. Das ist nicht stofflich, verstehen Sie? Wenn es stofflich wäre – ich garantiere Ihnen, dass jede Mütze anders riecht, als die Schuhe, ich kann es als Naturwissenschaftler garantieren.
Also denken Sie sich dieses Kind! Das Kind, das sich in einer Welt orientiert, die nicht unsere Welt ist. Warum nicht unsere Welt? Weil wir die Welt nicht fühlend wahrnehmen. Für uns ist mit dem Begriff schon alles getan. [deutet kurz auf ein Rosengebinde] Rote Rose im grünen Geäst, Ich habe Sie gar nicht richtig angeschaut, ich habe nur die Begriffe festgestellt. Und das Kind, das zum ersten Mal mit der roten Rose lebt, es braucht nicht zu wissen, dass es Rose heißt. Das sagt uns sowieso nichts, dass es Rose heißt, es könnte anders heißen, wäre auch gut. Das Kind lebt in einer anderen Welt nicht nur, weil dieses Kind die Welt fühlend erlebt – und auch wollend erlebt. Das muss ich Ihnen erklären: weil es das erste Wahrnehmen ist. Dieser Wille wird z.B. von Steiner der umgekehrte Wille, der empfangende Wille genannt. Das heißt, er geht nicht von mir aus, sondern, als ob ich sagen würde, dein Wille geschehe. Ich lasse meinen Willen, meinen Aufmerksamkeitswillen von dem prägen, was mir entgegenkommt. Und so auch das Kind. Das Kind muss irgendwann anfangen, einen Unterschied zu erleben, sonst kann es sich später nicht in der Welt orientieren. Aber dieser Unterschied ist kein sichtbarer Unterschied, kein riechbarer Unterschied, kein Unterschied der Formen, sondern zunächst ein Unterschied im Willen. In welchem Willen? Jede Gestalt, jede Sinnesqualität kann als Wille aufgefasst werden, wird auch so aufgefasst. Nicht nur von den Kindern, sondern selbst von den alten griechischen Anschauungen. Alles, was gestaltet ist, strahlt die Kraft aus, durch die es gestaltet wurde. Wenn ich Tischler bin, dann kann ich so ein Redner-Pult hier machen, ich gestalte das, und dieser Wille, mit dem ich das gestaltet habe, der bleibt fest in dem Pult und strahlt aus. Das Kind fühlt diesen Willen. Und im Willen erscheint der erste Unterschied, dass nämlich die verschiedenen Dinge in der Welt verschiedene Willensformen ausstrahlen. Dann geht es über in das Fühlen und zuletzt in das Denken. So lebt das Kleinkind in einer anderen Welt. Und deshalb, weil die kleinkindlichen Fähigkeiten und Wahrnehmungsarten, Denkarten, Arten des Fühlens bei der neuen Kindergeneration viel länger erhalten bleiben, deshalb bleibt auch dieses überschwellige Mitschwimmen im Weltgeschehen, in dem, was um das Kind geschieht, auch länger erhalten, und wird nicht so stark von Begrifflichkeit überdeckt, wie das bei uns der Fall ist. Deshalb lebt das Kind in einer anderen Welt, und wenn es in einer anderen Welt lebt, kann es sich in unserer Welt eigentlich sehr schwer heimisch fühlen. Wir haben damit kaum Probleme. Wissen Sie, wie das ist? Ich habe ein musikalisches Beispiel. Nehmen Sie an, Sie haben Instrumente, die pentatonisch gestimmt sind. Darauf können Sie nicht Beethoven spielen. Ist das verständlich? Es geht nicht. Dazu braucht man diese Stimmung, die wir bei unseren Instrumenten, besonders bei den fixiert gestimmten Instrumenten haben, dem Klavier z.B., oder bei der Orgel. Wenn Ihr Klavier pentatonisch gestimmt ist, dann können Sie keine klassische Musik spielen. Nur pentatonische. So ist das Kind, sagen wir, pentatonisch gestimmt, und unsere Musik ist Dur-Moll-Musik, die kann man auf dem Instrument des Kleinkindes nicht hören, nicht spielen. Das ist ein Sachverhalt, dem man kaum Rechnung trägt. So ein Kind, extrem ist das bei den Autisten, versteht unsere Welt nicht. Wir sind überzeugt, dass das die einzige Realität ist. Wir sind fest überzeugt. Ist hier jemand, der nicht davon überzeugt ist? Zwei Anwesende sind nicht überzeugt, ich übrigens auch nicht. Aber die meisten Erwachsenen, ganz besonders die Psychiater, wissen haargenau, wo das Kind von der Wirklichkeit abweicht. Sie stufen so ein Kind oder so einen Menschen danach ein, wie weit er von der Wirklichkeit entfernt ist, die ja fixiert ist, der Psychiater kennt diese Wirklichkeit auswendig und bemisst daran die Abweichung. Das habe ich mehrmals erlebt. Was kann man dann machen. Wenn ich da aufmucke, heißt es: aha, du weichst auch ab, bist ein Patient, vielleicht. Wenn ich ein Kind wäre, würde ich sicherlich da enden, bei dem Psychiater, der würde mich irgendwohin einweisen, damit ich richtig erkenne, was Wirklichkeit ist. Die Kinder wissen, was wir Wirklichkeit nennen, ohne dass wir es ihnen sagen müssten. Verstehen Sie das? Auch die Autisten wissen es. Und jetzt kommt etwas Tragisches. Die Autisten schreiben ja heute Bücher, und zwar sehr gute Bücher, wunderbare Bücher auch über Autismus. Und in diesen Büchern liest man immer ihre Ansicht, dass sie von der Wirklichkeit abweichen, sie, die Autisten. Sie wissen ungefähr, wie unsere Wirklichkeit aussieht, sie kennen sich darin gar nicht aus, aber sie wissen, das ist anders. Und sie haben das Gefühl, ihre Wirklichkeit, wie sie erleben, das ist eigentlich nicht in Ordnung. Ich habe die entgegengesetzte Überzeugung: unsere Wirklichkeit ist nicht in Ordnung! Sie können mich jetzt gleich einweisen, wenn Sie wollen. Ich erlebe – ab und zu – wenn ich eben Übungen mache oder meditiere, ihre Welt, die Welt dieser Menschen, oder dieser Kinder, und weiß haargenau, dass sie unsere Welt nicht erleben können, aber wir sind die Mehrheit. Antonio de Mello, ein ungeheuer geistreicher Jesuit, hat einmal geschrieben: Wir sind alle verrückt. Dass wir nicht eingesperrt sind, das liegt nur daran, dass wir die Mehrheit sind. Aber das ist gar nicht zum Lachen. Denn diese Kinder verirren sich in unserer Welt, weil die Melodie ihres Lebens, die sie im Mitschwimmen erfahren, nicht mit unserer Welt zusammenstimmt. Auch wir erfahren das, nur ist es bei uns überschattet durch Kopf-Begrifflichkeiten und bleibt nicht im Fühlen. Aber bei diesen Kindern bleibt es im Fühlen. Woher kennen sie unsere Welt? Das könnte jetzt wieder Hartwig Volbehr bestätigen: Wir strahlen unsere Weltanschauung aus, wir strahlen aus, was wir Wirklichkeit nennen. Wir brauchen es nicht darzulegen – könnten es kaum – aber wir strahlen es aus, und die Kinder erfassen es. Diese neuen Kinder, die autistischen Kinder, die halb-autistischen, und alle die von den 78 Disorders betroffenen Kinder, die in dem amerikanischen offiziellen Handbuch für psychiatrische Kindererkrankungen aufgeführt sind. Also nicht einfach ADS und ADHD, sondern 78 verschiedene Disorders! Denken Sie sich das! Die dortigen Psychiater sind fleißig. Wissen Sie, wieviel Doktor-Arbeiten darüber entstehen können, wenn man 78 Disorders hat … eine große Anzahl. So verirren sich diese Kinder in unserer Welt.
Dieses überschwellige Mitschwimmen im Fühlen ist das, was bei den alten Menschen nicht geschieht, die das Kurzzeitgedächtnis verloren haben, haargenau das. Also, das ist eine meiner Entdeckungen. Noch nicht ganz fertig, aber man kann es kontrollieren. Ich möchte Sie auch bitten, das zu kontrollieren, ob Sie es entdecken können dieses Mitschwimmen, diesen Strom, der in uns im Leben, in unserer Welt orientiert, und der die Kinder in unserer Welt nicht orientieren kann. Das ist etwas ganz Fatales. Wir sind fest überzeugt, dass bei diesen Kindern oder diesen Menschen etwas im Argen liegt, nicht bei uns. So auch die Psychiater, die ganz besonders.
Nun muss ich Ihnen noch über die andere Entdeckung berichten. Dieser Strom nämlich, dieser fühlende Strom, durch den wir uns in der Welt orientieren, ist den meisten Menschen nicht bewusst. Bei mir war er auch nicht bewusst. Es gibt noch etwas anderes nicht Bewusstes, und das ist die Denkbremse. Hören Sie das? Denkbremse! Das ist eine Bremse, womit man das Denken stoppen kann. Die haben wir auch, ganz besonders die Menschen, Philosophen, die sagen, das ist die heute führende philosophische Richtung, der Skeptizismus: „Man kann nichts Sicheres wissen“. Und jetzt treten sie auf die Bremse, damit das Denken nicht weitergeht. Verstehen Sie? Wenn das Denken weiterginge, würden sie sofort darauf kommen, auch diese Aussage, man kann nichts Sicheres wissen, ist nicht sicher, sie hebt sich auf. Aber die Denkbremse verhindert, dass sie weiterdenken. Deshalb denken sie nicht, und sagen: „Jetzt haben wir die letzte Wahrheit gefunden – man kann nichts Sicheres wissen“. Hören Sie das? Manche ziehen auch noch die Handbremse an. Aber es gibt auch andere Arten der Denkbremse. Da kommt ein Gehirnforscher und sagt: „Für alles, was ich sage, ist mein Gehirn verantwortlich“. Bremse, Denkbremse sofort, ja, auch die Handbremse. Denn wenn er nur einen Schritt weiterdenken würde, dann würde er darauf kommen, was ich jetzt gesagt habe, nämlich, dass mein Gehirn für alles verantwortlich ist, das ist auch nur ein Hirngespinst. Das heißt: mein Gehirn hat das hervorgebracht, wie ein Pflaumenbaum Pflaumen hervorbringt und keinen Apfel hervorbringen kann. Kein Apfelbaum kann kommen und dem Pflaumenbaum sagen: du bringst keine richtigen Äpfel hervor, sie sind so klein …das geht nicht. Mein Gehirn bringt solche Äpfel, sein Gehirn bringt solche Äpfel hervor – und das Gespräch ist beendet. Aber darauf kommt er nicht, weil er vorangehend schon die Denkbremse getreten hat. Das ist ein wichtiger Bestandteil des Menschen. Sie muss da sein, sonst würden wir uns nicht in solchen Blödsinn vergaloppieren. Das geht nur, weil wir einen Gedanken nicht bis zum Ende denken, fast keinen Gedanken bis zu Ende denken. Und deshalb leben wir in solchen Widersprüchen: einer sagt: alles ist relativ – das ist auch so eine Aussage – nur diese Aussage nicht, die ist absolut. Wenn wir die Denkbremse getreten haben, gelangt die Aussage nicht mehr ins Denken, dann wir bleiben dabei stehen. Das war mein letzter Scherz hier.
Was war das Ziel meiner Ausführungen? Dass wir kämpfen, alle, die hier das Wort ergriffen haben, kämpfen um diese Kinder, um alle diese Kinder, die ganze Palette von unordentlichen Kindern, die nicht in das Schema passen. Es gibt noch etwas: Steiner begründete die Waldorfpädagogik damit, dass sich in den letzten Jahrzehnten – von 1919 aus gesehen – die Kinder so weitgehend verändert hätten, dass jetzt eine neue Pädagogik und neue Erziehung an der Zeit sei. Das wissen alle Waldorfpädagogen, dass es damals so war. Aber jetzt haben sie schon die Denkbremse gezogen, und sie denken, dass sich seitdem die Kinder nicht mehr ändern. Was kann man machen? Mein letzter Scherz: Wir kämpfen gegen Pädagogen, Ärzte, Psychiater, Psychologen, Heilpädagogen usw.; ein riesiger Widerstand ist da, keine Frage. Deshalb war auch bei Henning Köhler die Frage, wie hält man das überhaupt aus? Das hast du hier behandelt. Ich wurde auch einmal gefragt: wie hältst du das aus, dass du das alles weißt? Ich habe geantwortet, in fröhlicher Verzweiflung. Das ist die einzige Art, wie man das aushalten kann. Und jetzt kommt der Hammer - diesen Ausdruck habe ich von Ihnen gelernt, den gibt es in Ungarn nicht. Es kommt zu mir eine Mitarbeiterin, eine Heilpädagogin in Ungarn, bringt vier Kataloge von der Spielzeug-Industrie und sagt: Hör mal! Alle diese Kataloge sind voll von Spielzeugen, die das Kind dazu führen können, seine Körperlichkeit besser zu empfinden. Woher weiß die Spielzeug-Industrie das? Die Heilpädagogen, Pädagogen, Ärzte, Psychiater, Psychologen wollen das nicht wissen, aber die Spielzeug-Industrie weiß es? Bei diesen Spielezeugen handelt es sich z.B. um große Bälle, die nicht glatt sind, sondern Noppen haben. Damit das Kind, wenn es so auf diesem Ball rollt, sich deutlicher fühlt. Das ist gut für die Balance, für den Gleichgewichtssinn. Die Kataloge sind voll von diesen Dingen. Sie wissen, dass das Abnehmer findet, sie wissen, dass die Kinder das brauchen. Denken Sie das! Woher wissen sie es? Aus ihrem Business-Denken wissen sie das, und sie erfassen es richtig. Das steigert nur meine fröhliche Verzweifelung. Vielen Dank!